Es schien noch vor einigen Jahren, als ob die deutschsprachige Literatur das am stärksten meide, was ihr am nächsten ist: die Gegenwart. „Die Welt von Gestern“ war es, der Geschichten entlockt und Lehren entwunden wurde. Das Vermessen des 20. Jahrhunderts, das Entfalten von Familienpanoramen bis in die Großelterngeneration, mithin die ganze Last der jüngsten Vergangenheit boten offensichtlich mehr Stoff für gute Romane als die Welt von heute. Fast konnte man meinen, die Imagination dessen, was vergangen ist, mache die Berechtigung von Literatur aus.
Der Antipode zur literarisierten Zeitgeschichte, der Poproman der neunziger Jahre, feierte bis zum Exzess das konsumierende Ich und die Oberfläche der Warenwelt. Die Texte spielten im „Gerade Eben Jetzt“ und koppelten die Gegenwartsliteratur mit einer durch Technoclubs und Designagenturen definierten Wirklichkeit. Programmatisch war der Verzicht auf Zeitkritik.
Es ist vor allem die Autorengeneration mittleren Alters, die – noch mit allen Wassern der philosophischen wie literarischen Postmoderne gewaschen – damit begonnen hat, ihre Romane mit dem Hier und Jetzt zu verweben. Unter dem Eindruck des massiven Wandels von Lebenswelt entwickelte sich aus bislang eingestreuten Partikeln des Realen eine die Texte prägende Zeitdiagnose.
Die literarische Vivisektion unserer Realität ist radikal im Sinne des Wortes: Sie geht den Dingen und Ereignissen an die Wurzeln und sie weiß um die große mediale Deutungskonkurrenz. Und so entstehen Erzählungen, die durchdringen, was in den Medien immer mehr verflacht: das Soziale, das Politische und das Ökonomische. Anspielungen auf Zeitereignisse wie den 11. September 2001 oder den Börsencrash von 2008, die Schilderung neuer Milieus im Stil der digitalen Bohème oder Settings der urbanen Clubkultur; sie alle konfigurieren radikal gegenwärtige Bilder in der Literatur. Fundiert von umfangreichen Recherchen und eingebettet in wissenschaftliche wie philosophische Diskurse ist der deutschsprachige Roman im 21. Jahrhundert angekommen.
In seiner avancierten Form begnügt er sich nicht damit, Banken, Ministerien und Lounges zur Kulisse von Allerweltsgeschichten um Lust, Liebe und Leid zu machen. Statt die hochfunktionalen, oft virtuellen Prozesse in Politik und Finanzwelt zu illustrieren, legt er verdeckte Verbindungen aus Kontrolle und Gewalt frei, spannt Fäden zwischen unterschiedlichen Terrains wie Politik und Ökonomie und webt so an einer narrativen Textur, deren Komplexität den Begriff Zeitroman ausfüllt. Grundiert aber ist der zeitdiagnostische Roman von der Frage, wie sich die flüchtigen Augenblicke
des Jetzt einfangen und erzählen lassen.
„Alle Geschichten brennen sich in die Gegenwart hinein, machen Löcher in die Zeit. In jeder Geschichte erneuert sich dieser angreifbarste, fragilste, unsicherste Gegenwartsmoment, der uns ausmacht“, so Thomas Hettche in einem Essay. Mit einem emphatischen Interesse an den Folgen dieser literarischen Intervention evoziert der zeitdiagnostische Roman das „Diffus-Abstrakte unserer Zeit“ (Thomas von Steinaecker). Hin und wieder ist es nur ein Hauch, der ihn vom zeitkritischen Roman der siebziger Jahre trennt und doch ist er bohrender und analytischer als dieser, mehr an Prozessen und Strukturen als an Urteilen interessiert.
Hinter die Prämisse, dass unsere Bilder der Wirklichkeit medial erzeugt sind, aber fällt kein avancierter Roman mehr zurück. Diffuse Eindrücke sind es, die heute die Wahrnehmung von Welt prägen, seien sie real oder literarisch. Allumfassende Epochendeutungen im Sinne Thomas Manns scheitern an der Zersplitterung von Identität und Realität. Und doch – so die Schriftstellerin Terézia Mora – will der Roman „immer noch alles sein“. Er würde sich, „wenn er könnte, die ganze Welt einverleiben – etwas, das mit unserem Bedürfnis korrespondiert, mit dem Chaos zurechtzukommen“.
Das 5. Frankfurter Literaturfestival literaTurm setzt den Akzent auf literarische Texte, die Wirklichkeit nicht illustrieren, sondern im vielfachen Sinn des Wortes reflektieren. Auf eine Prosa, die kühl seziert, was Realityshows für authentisch erklären. Deren Bilder und Szenen der gleißenden Brillanz von HD-Bildschirmen Tiefenschärfe und Nuancenreichtum entgegensetzen, ohne auf filmische Techniken wie Stills und harte Cuts zu verzichten. Eine Literatur, die mit ihrem Mix aus Slang, Diskurs und Pop den Sound der Gegenwart einfängt. Um solche Romane also geht es, die mit „Worten und ihren Verknüpfungen, aus nichts als reiner Erzählung heraus, das Innere der Wirklichkeit, ihre ureigene Wirklichkeit zur Anschauung bringen“ (Ulrich Peltzer).
Wie sie Wirklichkeit erzählen – die Poetik des zeitdiagnostischen Romans mithin – ist Subtext des Festivalprogramms. Die Reihe „Junge Poetik“ mit Monika Rinck, Matthias Göritz und Thomas von Steinaecker lädt zu Vorträgen ein; im Hauptprogramm folgt den Lesungen das Gespräch über die Schwierigkeit als Autor, der Beobachter und Archivar zugleich ist, Schreibweisen der Gegenwart zu entwickeln. Mit der Frage nach der Poetik von Gegenwartsbildern reagieren wir auch auf eine vermeintliche Erneuerung des Realismus als literarisches Konzept. Es scheint, als ob die postmoderne Fokussierung auf Zeichen und Symbole ihre Faszination verloren hat. Der „Sinn für die Realität“ (Albrecht Koschorke) ist wieder erwacht. So erweist sich das Reale als munterer Wiedergänger von großem Potenzial, sowohl literarisch als auch intellektuell. Die Romane der Gegenwart sind – mit Hans Blumenberg gesprochen – von einer „Welthaltigkeit und Welthaftigkeit“ wie lange nicht mehr. Das macht ihre Relevanz und ihren Reiz aus.
Sonja Vandenrath, Programmleitung